180 Grad.
Mittwochabend, 18.00 Uhr, ich sitze einigermassen unbequem inmitten schalem Red Bull Gestank, schwitzenden Herrenachseln und vom Arbeitstag gezeichneten dunklen Augenhöhlen und warte auf die zündende Idee für diesen Text. Meine Gedanken und Augen schweifen ab. Durch das Zugfenster gespiegelt sehe ich, wie die junge Frau im Abteil vis-à-vis an ihren iPhone Stöpseln nestelt. Auf den ersten Blick wirkt es so, als würde sie einen weissen Strickpullover lismen. Ich werde aus meinem Tagtraum gerissen. Ja Hölle, macht man das heute wirklich noch...als junge Frau...im Zug?
Eine Stunde vergeht, ich komme mittlerweile im tropfnassen Luzern an, doch meine Muse scheint wohl nicht mit eingestiegen zu sein. Ich spanne meine Fühler für die wahnwitzige Idee aus, die meisten vor mir spannen ihre Regenschirme wegen des wahnsinnigen Regens auf. Ich fühle mich wie im alten Rom, umgeben von einer Legion mit wasserabweisenden Stoffschildern, schützend gegen den Himmel und die messerscharfen Regenpfeile gerichtet. Den Treppen hinunter in die Bahnhofsunterführung folgend verfliegen sämtliche halbe Ideen, doch überraschend viele Regenschirme bleiben beim Gang durch den trockenen Bahnhofsbereich offen. Spüren diese Leute etwas, was ich nicht spüre oder sind sie einfach nur faul? So etz, zurück zum Wesentlichen!
Das Kirchengeläut um Mitternacht schlägt mir direkt ins Gesicht und lässt meine dünne Inspirationshülle zerplatzen. Wieder einmal bleibt die Idee für meinen perfekten Text irgendwo auf der Strecke. Im Nacken spüre ich schon den eiskalten Hauch meiner kleinen Lektorin, die schon sehnlichst auf diese Zeilen wartet, damit sie das dazu passende Bild einfangen kann.
Gopf, so geht das nicht weiter. Tagträumen und einfach blind drauflostexten? Ein solches Schreibverhalten ziemt sich nicht in der heutigen bis ins letzte Detail durchgeplanten Welt. Ich benötige dringendst eine neue Herangehensweise, einen Richtungswechsel. Am besten gleich um 180 Grad. Wenn’s sein muss auch zweimal.