Einmal um die eigene Welt.
“Es gibt Bike-Trails, die dich heilen”, lese ich in einem Instagram-Post einer bekannten Bikerin. Während ich mich nun Wochen später mit meinem Trek Fuel EX im Engadin durch zahlreiche Schneefelder kämpfe, rückt die Aussage unangemeldet wieder in mein Bewusstsein. Biken als seelische Tiefenreinigung. Ist da was dran?
Nach Aussage der lokalen Tourismusorganisation ist der Suvretta Loop ein Singletrail-Traum und gehört auf die Bucket List eines jeden Mountainbikers. Die ca. 34 Kilometer lange Rundtour mit 1600 Metern Höhendifferenz startet in Celerina, führt hoch zur Corviglia, dem Suvretta da Samedan entlang zur Alp Suvretta und schliesslich durchs Val Bever zurück nach Celerina.
Es ist Mitte Juni und die Bergwelt um St. Moritz zeigt sich bereits im schönsten Sommerkleid. Grüne Bergflanken, soweit das Auge reicht. Nur weit oben glitzern noch die letzten Schneeflecken, doch ihre Tage sind gezählt. Soweit so pittoresk, aber schon bald erfahren ich und meine Schwester, dass es noch einen guten Monat dauert, bis die Bike-Saison hier oben offiziell startet. Der Suvretta Loop wird uns die Antwort liefern, warum dem so ist.
Unsere Muskelkraft schonen wir im ersten Abschnitt der Tour und fahren mit der Signalbahn hoch auf 2130 Meter. Von hier führt ein steiler und langweiliger Weg hoch zur Corviglia. Nach einem weiteren Aufstieg erreichen wir auf 2684 Metern über Meer den höchsten Punkt der Route und erblicken nebst der fantastischen Aussicht auf die Seen- und Berglandschaft vor allem eines: verdammt viele Schneefelder. Mit einem leicht lauen Gefühl in der Magengrube folgen wir dem Trail in Richtung Suvretta Pass, von wo sich ein fünf Kilometer langes Tal bis zur Alp Suvretta erstreckt; gemäss Broschüre das Highlight der Tour.
Ab dem zugeschneiten Suvretta Pass hätte jeder Psychologiestudent die hellste Freude an unserem sich fast im Minutentakt wechselnden Gemütszustand. Das ursprüngliche Schamgefühl infolge fehlender Vorbereitung wird abgelöst durch die Phase des Leugnens und Nicht-Wahrhaben-Wollens. Es folgen subtile Wutanfälle aufgrund der nicht wasserdichten Schuhe, erste Ansätze innerer Verzweiflung und schliesslich die Akzeptanz, dass wir uns nun wohl oder übel durch diesen Schlamassel durchkämpfen müssen. Denn eingebrockt haben wir uns diesen schliesslich selbst.
Während wir also unsere Bikes mehr als eine halbe Stunde durch die Schneefelder hieven, bin ich ganz bei mir. Unfähig, meine Gedanken schweifen zu lassen, denn ich bin zu beschäftigt mit meiner Umgebung und dem, was sich gerade abspielt. Ein konzentrierter, aber nahezu meditativer Zustand, gefangen im Kneippbad. Und plötzlich, nach gefühlten zwanzig gegenseitigen Bekundungen, dass das jetzt bestimmt das letzte Schneefeld gewesen sein muss, sehen wir den heiligen Gral vor uns: ein schneefreier Trail, wunderschön ins Tal eingebettet, elegant sich windend, schlichtweg perfekt.
Es ist schon sehr beeindruckend, welch vollkommenes temporäres Glücksgefühl ein Trail auslösen kann. Die Fahrt zur Alp Suvretta und anschliessend durchs Val Bever, das einem Gemälde entsprungenen sein könnte, ist unbeschreiblich. Der Psychologiestudent dreht sich ob unserem blöden Grinsen und unserer inneren Zufriedenheit gelangweilt ab.
Kann Biken also eine auf die menschliche Psyche heilende Wirkung entwickeln? So weit würde ich nicht gehen, denn mentale Blockaden oder Krisen lassen sich nicht mit Sport wegtrainieren, genau so wenig wie sie sich mit gebrannten Wassern wegschwemmen lassen. Wir können unsere Psyche höchstens einen Moment lang von ihnen ablenken. Unseren Seelenfrieden müssen wir jedoch in harter Arbeit mit uns selbst erarbeiten.
Meines Erachtens ist es hingegen unbestritten, dass das Biken helfen kann, zukünftige Herausforderungen gelassener und mit stärkerem Selbstbewusstsein zu meistern. Denn jede absolvierte Tour, die scheinbar leicht über meinen Fähigkeiten lag oder mir alles abverlangt hat, erfüllt mich mit Stolz und stärkt das Vertrauen in mich selbst. Doch werden wir hier nicht zu psychologisch, schliesslich geht es beim Biken eigentlich nur um eines: Do you even drift, bro?